Spurlos verschwunden
NACHHALTIGKEIT20.03.2023 (Interview mit Dr. Anne Lamp von „traceless“. Das Interview führte Robert Schütz für Stylepark.com . Eine natürliche Alternative zum klassischen Kunststoff: Das Bioökonomie Start-Up traceless aus Hamburg arbeitet mit pflanzenbasierten Biomaterial an einer Umsetzung dieser Vision.
20.03.2023 (Interview mit Dr. Anne Lamp von „traceless“. Das Interview führte Robert Schütz für Stylepark.
Das Start-up traceless wurde 2020 von der Verfahrenstechnikerin Dr. Anne Lamp und der Wirtschaftsexpertin Johanna Baare in Hamburg gegründet. Die Aufmerksamkeit für ihre Arbeit findet seitdem eine große Anerkennung – und dass nicht erst nach den Auszeichnungen wie dem Deutschen Gründerpreis und dem Deutschen Nachhaltigkeitspreis. Auch große Unternehmen bemühen sich um Partnerschaften, wie jüngst der europäische Modehändler C&A. Ein gemeinsames Pilotprojekt ist bereits in der Testphase.
Robert Schütz: traceless wurde bereits mehrfach ausgezeichnet, darunter mit dem Deutschen Gründerpreis; zudem interessieren sich viele große Unternehmen für eine Kooperation. Haben Sie den Nerv der Zeit getroffen?
Dr. Anne Lamp: Das Thema, welches wir mit traceless angehen, ist brandaktuell. Die Bilder der Plastikverschmutzung sind eindrücklich, die Abhängigkeit von fossilen Rohstoffen und der Klimawandel sind im Zentrum der Debatte angekommen. Umweltverbände und WissenschaftlerInnen weisen seit langem auf die Probleme hin, auch die Politik wird aktiv – auf EU-Ebene entstehen endlich Regularien, zum Beispiel die Single-Use Plastics Directive, oder eine geplante Neuerung der Verpackungsrichtlinie. Zusammen mit dem gestiegenen Bewusstsein der KonsumentInnen entsteht in Summe ein Handlungsdruck auf Hersteller und Industrie, neue Lösungen zu finden. Diese Offenheit hat uns gerade zu Beginn sehr geholfen, schließlich ist unsere Lösung etwas ganz Neues!
Produkte, die aus dem pflanzenbasierten Biomaterial Traceless hergestellt werden, sind für den biologischen Kreislauf geeignet, sprich sie werden auf dem Kompost zersetzt. Aus dem Abfall könnte dann wieder ein neues Produkt entstehen. Können Sie dies genauer erläutern?
Dr. Anne Lamp: Unsere Idee beruht auf dem „Cradle To Cradle“ Konzept – also der Idee, dass in einer echten Kreislaufwirtschaft neben dem technischen Rohstoffkreislauf, dem klassischen Recycling, auch der biologische Kreislauf mit bedacht werden muss. Und zwar für alle Produkte, die leicht in der Umwelt landen können, und für die der technische Kreislauf nicht funktioniert – was leider bei vielen Produkten, die heute aus Kunststoff hergestellt werden, der Fall ist. Ausgehend von dieser Idee haben wir eine Technologie entwickelt, mit der wir auf Basis von pflanzlichen Reststoffen der Agrarindustrie eine biozirkuläre Plastikalternative herstellen können. Das traceless-Material ist vollständig biobasiert, frei von potenziell schädlichen Stoffen, und geeignet für den Heimkompost. Da es auf natürlichen Biopolymeren basiert, ist es chemisch gesehen kein Kunststoff. Am Ende des Lebens werden der pflanzengebundene Kohlenstoff wieder freigesetzt, Nährstoffe oder Energie werden gewonnen – die dann neuen Pflanzen zum Wachstum dienen.
Eine Massenproduktion mit Traceless-Material ist geplant – was werden Sie unternehmen, um dem Cradle to Cradle Gedanken auch hier treu zu bleiben?
Dr. Anne Lamp: Natürlich hinterlassen auch wir bei der Produktion einen Fußabdruck – aber da dieser deutlich kleiner ist als bei der Herstellung von Plastik, können wir unter dem Strich für Ersparnisse sorgen. Zudem haben wir die Technologie zur Herstellung unseres Materials von Anfang an auf Skalierbarkeit ausgelegt. Die globale jährliche Plastikproduktion liegt aktuell bei gut 460 Millionen Tonnen*, wovon etwa 22 Millionen Tonnen in die Umwelt gelangen können – aufgrund der steigenden Nachfrage könnte sich letztere Zahl bis 2060 verdoppeln. Um überhaupt nennenswerte Mengen zu ersetzen und einen ökologischen Mehrwert zu generieren, müssen wir im großen Stil Material produzieren können. Welchen Einfluss dies haben wird, können wir heute schon vorhersagen, denn dafür haben wir bereits vor der Gründung eine „Consequential LCA“ erstellen lassen. Das ist eine Ökobilanz, die die Auswirkungen industrieller Produktion vorhersagt, und zwar von der Rohmaterialgewinnung über die Produktion bis hin zur Entsorgung, inklusive Folgeeffekte. Das Ergebnis: traceless verhindert nicht nur Plastikmüll, wir sparen im Schnitt 83 Prozent fossile Energienutzung in der Produktion und bis zu 95 Prozent CO2 Emissionen in Produktion und Entsorgung sowie verursachen keinen Mehrbedarf an Wasser und Agrarland.
Können Sie uns etwas mehr zu den technischen Eigenschaften des Materials sagen?
Dr. Anne Lamp: Obwohl traceless technisch gesehen kein Kunststoff ist, lässt es sich thermoplastisch verarbeiten – auf den gleichen Anlagen, zum Beispiel im Spritzguss oder der Extrusion. Diese Verarbeitungstechnologien sind etabliert und es ist uns wichtig, auf deren Infrastruktur und dem Know-How aufzubauen. Was die Materialeigenschaften selbst angeht, kann traceless bereits jetzt mit vielen Eigenschaften konkurrieren. Wir arbeiten kontinuierlich daran, diese weiter zu optimieren, so dass sie für möglichst Produktanwendungen geeignet sind. Wir stellen das Material beispielsweise in Form eines Granulats her, das sich zu Gussteilen, Folien oder Beschichtungen verarbeiten lässt.
Mir kommt hier ein Beispiel in den Sinn: Einer der meistverkauften Stühle weltweit ist der Monobloc, der im Spritzgussverfahren aus Polypropylen hergestellt wird. Aufgrund seiner geringen Qualität findet das Möbel allerdings schnell den Weg in den Müll. Könnte die Herstellung aus Traceless Granulat hier eine Lösung sein, da das Material wieder in seine biologischen Bestandteile zerfällt?
Dr. Anne Lamp: Die Herstellung wäre technisch möglich, denn der Monobloc wird im Spritzguss hergestellt. Ob die Verwendung eines Biomaterials hier aus ökologischer Sicht Sinn macht? Da muss man genau hinschauen. Das traceless Material ist zwar lagerstabil, aber auch biologisch abbaubar. Das ist mit einer Nusschale vergleichbar: Man kann sie sehr lange lagern, aber sobald man sie auf den Kompost legt, wo Feuchtigkeit und Mikroben vorherrschen, beginnt der natürliche Abbau. Bezogen auf den Monobloc-Stuhl muss man also überlegen: Wie lange wird der Stuhl im Schnitt verwendet, und unter welchen Bedingungen? Steht er jahrelang im Freien und ist Witterung ausgesetzt, wird ein abbaubares Material die Lebenszeit verkürzen. Für einen solchen Fall ist ein synthetisches Material geeigneter, und man müsste stattdessen eher dafür sorgen, dass der Monobloc möglichst langlebig ist und dann ohne Qualitätsverlust technisch recycelt werden kann – sodass sich der enorme Einfluss der synthetischen Materialherstellung auf die Umwelt auch wirklich lohnt. Kompostierbare Materialien wie traceless, die einen sehr geringen ökologischen Fußabdruck haben, sind für Produkte sinnvoll, die ohnehin nur kurz verwendet werden oder schnell im Müll landen.
Könnte ein Stuhl wie der Panton Chair, der vorzugsweise für den Innenbereich konzipiert wurde, und ebenfalls im Spritzgussverfahren aus Polypropylen hergestellt wird, geeignet um aus pflanzenbasierten Biomaterial produziert zu werden?
Dr. Anne Lamp: Da es in diesem Fall keinen Witterungseinfluss gibt, wäre das technisch möglich. Hier sind wir aber quasi in der „Königsklasse“ angelangt – die mechanischen Anforderungen an ein solches Sitzmöbel sind hoch. Hochleistungsanwendungen wie diese können wir noch nicht angehen, denn synthetische Kunststoffe wurden im Vergleich über Jahrzehnte entwickelt und optimiert. Bis wir mit den traceless Materialien an diesem Punkt sind, liegt noch einiges an Arbeit vor uns. Wir bringen nun die erste Materialgeneration auf den Markt, und dafür fangen wir mit den etwas einfacheren, kleineren Produkten an.
Sie haben kürzlich gemeinsam mit dem Modeunternehmen C&A ein Pilotprojekt lanciert. Hier geht es um ein auf den ersten Blick recht banales Gebrauchsgut, der Herstellung von Textil- bzw. Sockenhaken. Könnten Sie an diesem Beispiel den Nutzen für C&A und die Umwelt erläutern?
Dr. Anne Lamp: Wie viele Marken und produzierende Unternehmen hat sich C&A das Ziel gesetzt, Einwegkunststoffe in Verpackungen möglichst zu eliminieren. Jedes Jahr werden global gesehen rund 8-10 Milliarden Kleiderbügel aus Plastik produziert. Besonders die Haken sind aufgrund ihrer kleinen Größe schwierig zu recyceln. Da sie in den Läden unverzichtbar sind, und auch nicht aus Pappe hergestellt werden können, war C&A auf der Suche nach einer plastikähnlichen Lösung. Hier kamen wir mit traceless ins Spiel. Gemeinsam haben wir das Produkt entwickelt, und im Spritzguss eine erste Serie produziert, die seit Dezember 2022 im regulären Sortiment getestet wird. Für uns war das ein wichtiger Moment – das erste Produkt im Handel! Die KundInnen vor Ort haben die Veränderung kaum bemerkt, denn die Haken sehen abgesehen von der bernsteinähnlichen Farbe den Plastikhaken recht ähnlich. Das haben wir als Erfolg verbucht: traceless funktioniert wie Plastik, nur eben plastikfrei.
Welche weiteren Anwendungen, zum Beispiel im Bereich Architektur und Design, könnten Sie sich mit traceless vorstellen?
Dr. Anne Lamp: Den größten ökologischen Mehrwert haben low-impact Materialien wie traceless in Produkten, die leicht in die Umwelt gelangen können, und bei denen Recycling schwierig ist. Das können Einwegverpackungen oder kleine Alltagsprodukte sein, aber auch versteckte Anwendungen von Kunststoff – beispielsweise Klebstoffe oder Papierbeschichtungen. Schritt für Schritt sind wir dabei, möglichst viele dieser Anwendungen zu erschließen. Wir setzen auf Partnerschaften mit Marken aber auch mit verarbeitenden Unternehmen. Wir sind sehr froh, dass das disruptive Potential unserer Technologie gesehen wird. Die Arbeit mit natürlichen Polymeren – quasi den „Kunststoffen der Natur“ – ist kaum verbreitet, und unser Team leistet in vieler Hinsicht Pionierarbeit.
Wir bekommen Anfragen aus allen Bereichen, auch aus der Bauwelt und Architektur, und selbst wenn wir heute noch keine Lösung liefern können, sind wir offen für neue Ideen. Das Spannungsfeld aus großer Nachfrage und großer Herausforderung treibt uns an, und macht die Arbeit an traceless jeden Tag spannend.
Einer der PionierInnen des „Cradle to Cradle, Dr. Michael Braungardt, betrachtet das Prinzip als einen ganzheitlichen Prozess. Welchen Anteil hat das Rohmaterial traceless am Erfolg den Kohlenstoff-Fußabdruck eines Fertigproduktes wie der Einweggabel zu reduzieren?
Dr. Anne Lamp: Das lässt sich nicht pauschal beantworten, da muss man wirklich jedes Produkt einzeln betrachten. Für das Material selbst kann man aber durchaus einen Vergleich anstellen. Kunststoff hat einen signifikanten Fußabdruck in allen Phasen des Lebenszyklus. Die Produktion von synthetischen Polymermaterialien ist ressourcenaufwändig, das betrifft nicht nur fossile Ausgangsstoffe wie Rohöl, sondern auch den Energieaufwand der Materialherstellung. Beides vermeiden wir durch die Nutzung natürlicher Polymere, die bereits in der Pflanze entstanden sind, und die wir in einem einfachen und effizienten Prozess extrahieren. Weiterer wichtiger Faktor: Bei Kunststoff sind oftmals potenziell schädliche Chemikalien im Einsatz, nicht nur im Prozess, sondern auch im Produkt selbst. Cradle To Cradle nimmt diesen Faktor in den Blick, man spricht hier von „Materialgesundheit“. Wir verzichten auf diese potentiell schädlichen Substanzen.
Wenn neue Materialien öfter aus traceless hergestellt werden, bestünde dann die Gefahr, dass wir noch mehr zu einer Wegwerfgesellschaft mutieren? Denn schließlich verschwindet ja alles spurlos?
Dr. Anne Lamp: Genau wie alle anderen Produkte sollten auch jene, die aus traceless hergestellt werden, nach Gebrauch nicht einfach in die Umwelt geworfen werden. Für diesen Aspekt sensibilisieren wir unsere KundInnen und betreiben aktiv Aufklärung. Der Vorteil von traceless liegt also eher in der Resilienz in einem aktuell dysfunktionalen System. Wir sind bereits mitten in der Wegwerfgesellschaft angekommen, und die Frage ist eher, wie kommen wir da wieder heraus? Wir müssen ein System etablieren, in dem alle Produkte, egal aus welchem Material, korrekt entsorgt werden. Das können wir erreichen, wenn die Produkte so gestalten und produziert werden, dass sie in geschlossenen Kreisläufen zirkulieren – in technischen oder in biologischen – und keine schädlichen Spuren auf dem Planeten hinterlassen.